Pädagogik

BEITRAG „DIE HÄNDIGKEIT“ 

erschienen in ESTA-Nachrichten, Heft Nr. 72, Oktober 2014 

DIE HÄNDIGKEIT 
AUFGABEN UND MÖGLICHKEITEN 

Vor einigen Jahren wurde mir in der Arbeit mit einem linkshändigen hochbegabten dreizehnjährigen Celloschüler klar, dass die effektivste Möglichkeit auf seine etwas zu angespannte rechte Bogenhand Einfluss zu nehmen, die Lockerung seiner linken Greifhand war. Dieses Phänomen konnte ich nun auch an meinen rechtshändigen Schülern und mir selber beobachten: war die rechte Bogenhand in einer gelösten, feinmotorisch eingestellten Verfassung, konnte die linke Greifhand ihre Arbeit mit erstaunlicher Leichtigkeit und Präzision erfüllen. Ebenso konnte ich beobachten, wie sich ein von mir mit viel Emphase geführter Bogenakzent in der Greifhand als deutlicher Greifimpuls äußerte.Diese Verbindung und Abhängigkeit der beiden Hände zu- und voneinander sinnvoll in den Üb- und Spielprozess zu integrieren, verspricht eine große Steigerung der Übeffizienz und die »Befriedung« eines natürlichen inneren Ungleichgewichts, das ich kurz skizzieren möchte: bei einem Menschen mit entwickelter Händigkeit übernimmt in komplizierten Tätigkeiten immer wieder dieselbe Hand die Führung, während die andere Hand die Funktion eines nachgeordneten Assistenten innehat. Die Aufmerksamkeit und die Bewegungsempfindung liegen hauptsächlich in der Führungshand.

Die Assistenzhand läuft unbewusst mit und folgt den Bedürfnissen der Führungshand. Deswegen möchte ich sie im weiteren Text »Folgehand« nennen. Sie ist in einer gemeinschaftlichen Tätigkeit mit der Führungshand nicht selbstständig, sondern passt sich reflexhaft an den Spannungszustand der Führungshand an. Dies heißt im Umkehrschluss, dass die Führungshand für den Spannungszustand der Folgehand verantwortlich ist. Dies hat bei Rechts- und Linkshändern verschiedene Konsequenzen. Beim Rechtshänder hat die Bogenhand großen Einfluss auf die Lockerheit der linken Greifhand. Oft besteht im Spielprozess ein großer Unterschied im optimalen Kraftaufwand zwischen den beiden Armen und Händen. Während die linke Greifhand ganz in feinmotorischen Bewegungen bleiben sollte, um die extreme Genauigkeit und Zuverlässigkeit für eine gute Intonation zu leisten, ist die rechte Bogenseite in einem deutlich weiteren Bereich zwischen feinmotorischen und grobmotorischen Bewegungen aktiv und leitet so die linke Folgehand leicht in eine für sie zu hohe Grundspannung. Um der linken Greifhand die Möglichkeit zu geben, die für sich wirklich optimalen Bewegungen zu finden, muss sich die rechte Seite auf die Bedürfnisse der linken Seite einstellen und über ihr Vorbild der Folgehand den Weg weisen.

So trainiert die rechte Führungshand die linke Folgehand mit einem zarten, leisen Klang, der einen ganz leichten und entspannten Bogengriff ermöglicht. Dies geschieht so lange, bis das Bewegungsgedächtnis die optimal feinmotorischen Bewegungen der linken Seite so weit verinnerlicht hat, dass sie in diesem Spielgefühl eine stabile Selbstständigkeit erreicht hat. Nun kann die rechte Führungsseite sich schrittweise von dem Spielgefühl der linken Folgeseite entfernen und zu ihrer eigenen Spielgestaltung übergehen. Es öffnet sich eine Schere zwischen den beiden Seiten: Das Spielgefühl wird, je nach Anforderungen des Stücks, immer unterschiedlicher. Die Bogenseite trägt aber weiterhin die Verantwortung für die linke Greifhand. Fühlt die linke Seite sich im weiteren Übprozess nicht mehr leicht und angenehm an, sollte sich die rechte Seite wieder ganz auf die linke einstellen, bis die Eigenständigkeit wieder hergestellt ist. Hat sich dieses System stabilisiert, kann der Rechtshänder sich ganz auf seine rechte Führungsseite konzentrieren. Durch die Tonvorstellung aktiviert er die eingeübten und optimal im Bewegungsgedächtnis gespeicherten Bewegungen der linken Greifhand.

Sie laufen weitestgehend autonom ab, und er kann die Leichtigkeit genießen, mit der er sich mit seiner Führungsseite, das Musikstück gestaltend, von dem Spielgefühl der linken Hand zeitweise weiter entfernt, oder annähert. Auch im Konzert sollten die für die linke Hand technisch schwierigen Passagen von der rechten Seite geführt werden. Ein bewusstes Hineinarbeiten in die linke Seite würde dort ungewollt zu einer höheren Spannung führen. Auch für den Linkshänder liegt das Trainieren der linken Seite im ersten Übungsabschnitt. Dies hat aber einen anderen Hintergrund. Der Linkshänder sollte, frei von allen Emotionen, seiner Führungshand die Möglichkeit geben, ihre händigkeitsbedingte Geschicklichkeit voll zu entfalten und als eigenständige Qualität zu etablieren. Parallel sollten Bogenübungen das Klangspektrum des Stückes erschließen, das Augenmerk auf die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten des Bogens lenken. Wenn der Bogengriff dabei zu fest wird, der Klang starr und gedrückt wirkt, kann die linke Führungshand ihn mit einem leichten Griff als Vorbild positiv beeinflussen. Sie kann am direktesten auf die Qualität des Klanges Einfluss nehmen. Für den Bogen schwierigere Stellen können schon mit leeren Saiten geübt werden.

Das Hauptaugenmerk sollte darauf liegen, dass sich der Bogengriff beim Spielen lebendig, leicht und expressiv anfühlt und dass dort die musikalische Führung liegt. Für seine linke Hand sollte der Linkshänder eine eher passive Leichtigkeit suchen. Das Vibrato, das sich ja expressiv in die musikalische Gestaltung einbringt, weicht diese Regel auf, und so ist es für den Linkshänder besonders wichtig, dass er lernt, eine musikalisch spannungsgeladene Vibratobewegung zu erzeugen, ohne die Spannung in den ganzen linken Arm hineinzunehmen und ihn damit feinmotorisch zu blockieren. Dies würde ihm seinen natürlichen manuellen Vorteil in der linken Hand nehmen und einen negativen Kreislauf in Gang setzen, an dessen Ende ein Unwohlgefühl stünde, das sich über das gesamte Spielgefühl legen würde. Insgesamt sollte der Linkshänder immer wieder versuchen seine Spielführung in die rechte Seite zu legen. Geschieht dies schon möglichst früh, ist in der Regel nicht zu befürchten, dass er sich in seinem Ausdruckswillen gewaltsam verändert fühlt. Ist dies doch der Fall, sollte über ein invertiertes Instrument nachgedacht werden.

Meistens ist aber eine natürliche Entwicklung möglich, die den Linkshänder in die Lage versetzt seine musikalischen Vorstellungen optimal in Klang umzusetzen, und es wird ihn mit Stolz erfüllen, wenn seine geschickte linke Greifhand technisch schwierige Stellen mühelos meistert. Das Streichinstrument hat sich von einem Rechtshänderinstrument, auf dem möglichst laut und prägnant Tanzmusik im Tonumfang von ungefähr einer Oktave gespielt wurde, zu einem hochvirtuos gespielten Beidhänderinstrument entwickelt. So ist es für beide Händigkeitstypen von großem Vorteil, wenn sie verstehen lernen, welche Aufgaben und Möglichkeiten ihre Händigkeit für sie bereit hält.

Beitrag als PDF >>>